THOMAS DÜRST FOTOGRAFIE

Fotografie:
ICM (Intentional Camera Movement)

(2021-06-01)
Üblicherweise ist man bestrebt, bei einer fotografischen Aufnahme die Kamera ganz ruhig zu halten oder ggf. auf ein Stativ zu montieren, um keine Unschärfen durch eine unbeabsichtigte Kamerabewegung zu erhalten (ein Sonderfall ist das Mitziehen der Kamera, bei der ein sich bewegenden Objekt scharf abgebildet wird und seine Umgebung zwangsläufig unscharf erscheint).


Winterlandschaft

ICM-Fotografie (Fotografie mit absichtlicher Bewegung der Kamera) will genau solche durch Kamerabewegung erzeugte Unschärfen nutzen, um spezielle Effekte zu erzielen. Dabei werden Punkte nicht als Punkte, sondern als Linien aufgezeichnet, und Linien als Flächen. Außerdem ergibt sich eine Mischung von Farben, da sich an einem bestimmten Punkt im Bild Punkte mehrerer Motivpunkte überlagern, bzw. ein „Ineinanderfließen“ von Farben: bei den Überlagerungen dominiert jeweils die hellere Farbe. Im Unterschied zum erwähnten Mitziehen ergibt ICM-Fotografie Fotos, auf denen (bei kontinuierlicher Bewegung) gar nichts scharf abgebildet ist. Dennoch sollte auf das (Haupt-)Motiv fokussiert werden; anderenfalls ergibt sich u.U. ein undefinierter Brei an Farben.

Durch das Auslöschen scharfer Details wird die Wahrnehmung auf andere Elemente wie Linien, Flächen und Farben gelenkt. Solche Fotos können erheblich lebendiger als statische Bilder wirken. Sie sind gut geeignet, Stimmungen zu transportieren.

Alle Fotos: © Thomas Dürst 2021

ICM-Fotografie erfordert neben der Kamerabewegung eine längere Belichtungszeit, um einen deutlichen Effekt zu ermöglichen und das Bild nicht nur wie „verwackelt“ aussehen zu lassen. Wie lang sie sein sollte, ist von mehreren Faktoren abhängig: der Brennweite des Objektivs, der Art sowie der Geschwindigkeit der Kamera­bewegung, und dem gewünschten Effekt: Soll das Motiv noch erkennbar sein, oder soll alles bis zur Unkenntlichkeit des Motivs in Unschärfe verschwimmen?

Der jeweils optimale Wert muss durch Versuch und Irrtum herausgefunden werden. Belichtungszeiten zwischen 1/25 und 1 Sekunde sind gute Startwerte. Längere Belichtungszeiten sind meist von Vorteil, weil damit mehr Zeit für die Kamera­bewegung zur Verfügung steht und so die Bewegung kontrollierter ausgeführt werden kann.

Diese Angaben zeigen schon, dass ICM-Fotografie eher bei gedämpftem Licht erfolgen sollte. Wenn das vorhandene Licht auch bei starkem Abblenden aus­reichend lange Verschlusszeiten nicht zulässt, helfen Graufilter; ggf. kann auch ein Polfilter eingesetzt werden, der allerdings das Licht nicht stark dämpft und zudem auch die Farben beeinflusst.

Die Bewegung der Kamera kann in allen erdenklichen Richtungen erfolgen; waag­recht, senkrecht, schräg, im Kreis, Drehung der Kamera. Natürlich ist auch eine Kombination solcher Bewegungen möglich. Es gibt keine Regeln! Eine zu chao­tische Bewegung ergibt jedoch meist auch chao­tische Bilder. Auch muss die Bewegung nicht während der gesamten Belichtungszeit erfolgen. Bei einer unterbrochenen Bewegung wird das Motiv teilweise scharf abgebildet und von einem unscharfen Bild überlagert.


Sonnenuntergang
Die Kamera wurde zu Beginn und am Ende der Belichtung nicht bewegt.


Nächtliche Leuchtspuren I
Künstliche Lichtquellen bei Dunkelheit sind beliebte Motive für ICM-Fotos. Je nach Anord­nung der Lichtquellen kann auch eine chaotische Kamerabewegung zu bemerkenswerten Ergebnissen führen.

Ein spezieller Fall ist der so genannte Zoom Burst. Dabei wird nicht die Kamera bewegt, sondern an einem Zoomobjektiv während der Belichtung die Brennweite verändert – das ist also keine ICM-Fotografie. Der Zoom Burst ist aber mit ICM kombinierbar, sodass neben dem Zoomeffekt auch eine Unschärfe durch die Kamerabewegung dazukommt; z.B. wandert bei einer linearen Kamerabewegung das Zentrum des Zoom Bursts während der Belichtung über das Motiv.


Nächtliche Leuchtspuren II
Zoom Burst bei gleichzeitiger — nicht linearer — Bewegung der Kamera. Das Motiv ist das gleiche wie oben beim Bild „Nächtliche Leuchtspuren I”.

Welche Bewegung möglich ist, wird von der Belichtungszeit bestimmt. Bei zu kurz gewählten Zeiten sind kompliziertere Bewegungen gar nicht ausführbar, und auch das Ergebnis einfacher Bewegungen ist extrem stark vom Zufall abhängig. Längere Belichtungszeiten erlauben mehr Spielraum bei der Bewegung, können aber zu zittrigen und ungleichmäßigen Bewegungen führen, was nicht immer gewünscht ist. Um Bewegungen exakt in eine Richtung und gleichmäßiger auszuführen, empfiehlt sich die Verwendung eines Stativs mit Stativkopf, der streng eindimensionale Bewegungen zulässt.

Welche Bewegung sinnvoll ist – damit meine ich, welche Bewegung zu einem ansprechenden Ergebnis führt – ist wesentlich vom Motiv abhängig, aber auch von der Länge der Bewegung. Auch hier wird nur Versuch und Irrtum (und nach anfäng­lichen Fehlversuchen auch Erfahrung) zu ansprechenden Ergebnissen führen.


Bäume
Aufgrund ihrer dominant senkrechten Ausrichtung eignen sich Bäume vor allem für ICM-Fotos mit senkrechter Kamerabewegung. Gute Ergebnisse lassen sich auch bei waagrechter Bewe­gung erzielen, wenn die Bewegung nur einen kleinen Winkel überstreicht.

Eine besondere Qualität erhalten ICM-Fotos, wenn nicht nur die Kamera bewegt wird, sondern sich auch ein Teil des Motivs bewegt (z.B. ein Fahrzeug; wobei die Bewegung des Fahrzeugs schneller oder langsamer wie die der Kamera sein muss, um nicht einen normalen Mitzieh-Effekt zu erhalten). Dadurch entstehen Bereiche unterschiedlich starker Unschärfe.


Alles fließt
Fließendes Wasser und Kamerabewegung.

Ebenfalls ein besonderer Fall ist, wenn das Foto aus einem fahrenden Fahrzeug heraus aufgenommen wird. Dabei ergibt sich bei ruhig gehaltener Kamera auto­ma­tisch eine waagrechte Bewegung, die bei Fahrzeug-nahen Objekten zu einer stär­keren Unschärfe führt als bei weiter entfernten. Die Fahrzeug-Bewegung kann durch eine zusätzlich in eine andere Richtung bewegte Kamera überlagert werden. Wird die Kamera zusätzlich waagrecht gegenläufig zum Fahrzeug bewegt, ergibt sich eine stark ungleichmäßige Unschärfe insbesondere bei nahen Objekten.


Fahrt mit der Eisenbahn
Kamera gegenläufig zur Fahrtrichtung bewegt


Nachfolgend einige weitere Beispiele.


Großstadt-Lichter


Ohne Titel


Wer hat Angst vor Gelb-Grün-Blau?
(Bildtitel in Anlehnung an ein Gemälde von Barnett Newman)


Waldrand


Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein ähnlicher Effekt auch nachträglich durch eine Bildbearbeitung erreicht werden kann: z.B. in Photoshop mit dem Filter „Bewegungs­unschärfe“. Damit lässt sich der Effekt zwar genauer steuern; es sind aber nur exakt lineare Unschärfen zu erzielen. Außerdem erzeugt der Filter Arte­fakte an den Bildrändern.


Pseudo-ICM: in Photoshop erzeugte Bewegungsunschärfe
Am oberen und unteren Bildrand sind Artefakte erkennbar (die Unschärfe wirkt dort unnatürlich).






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© Thomas Dürst 2023